7,9K Inhalt Definitionsgrundlagen: Maske in JapanDer triefende EurozentrismusLuftverschmutzung in TokyoHistorischer Exkurs: Umweltskandale in JapanAlso, warum trägt man in Japan Maske?Fazit: Warum tragen Japaner:innen Masken?Quellenverzeichnis Mit der globalen Sars-CoV-2-Pandemie sind medizinische Masken zu einem fast schon vertrauten Anblick geworden. Immer wieder werden dabei in den Medien Vergleiche zu Japan gezogen, die freundlich ausgedrückt meistens eher unglücklich enden. Eine Frage, die immer wieder aufkommt: Wieso tragen Japaner:innen (auch schon vor Corona) Maske? Wegen der Luftverschmutzung? Die meisten Artikel, die wir schreiben, haben einen positiven Ursprung. Wir möchten euch mehr erzählen über Japan, warum wir das Land meist schätzen und manchmal auch verteufeln. Ambivalenz gehört dazu, aber wir wären nicht wir, wenn wir nicht eindeutig sagen könnten: Wir lieben Japan. Der heutige Artikel ist ein wenig anders gelagert. Er entstammt einer Diskussion in den Kommentarspalten einer Zeitung. Aber Micha, werdet ihr jetzt sagen, was tust du? Und ja, wir haben schnell gelernt. Online-Kommentarspalten – zumal auf Social-Media-Plattformen – sind wirklich ein Graus. Die Leute plärren Unsinn in den Raum und es gibt nahezu keine Möglichkeit, selbst als Fachexperte nicht, sie von einfachsten und wenig umstrittenen Fakten zu überzeugen. Weil immer ein User jemanden kennt, der jemanden kennt, der auf Facebook gelesen hat, dass … Aber der Reihe nach. Definitionsgrundlagen: Maske in Japan Zur Klärung vorweg: Wenn wir lapidar von „Maske“ sprechen, dann geht es um jede Art von Mund-Nasen-Schutz. Im historischen Kontext hat sich die Maske seit der Spanischen Grippe 1918 natürlich oft verändert. Von einer Art Stofflappen zu den modernen OP-Masken. In Japan der Neuzeit sprechen wir vor allem von medizinischen OP-Masken. Nur selten (aber immer häufiger) trägt man FFP2-zertifizierte Masken, die sogenannte „Community-Maske“ aus Stoff wurde auch in Japan zu Beginn der Pandemie wichtiger, spielt aber nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle. In den sozialen Netzwerken wurden u. a. Tipps und Schnittmuster zum Selbstnähen geteilt und auch viele japanische Modemarken verkaufen eigene Masken-Modelle. In Kusatsu trugen die Auftretenden und auch viele Zuschauer im März 2020 Maske. Der triefende Eurozentrismus „Masken, das tragen doch die Asiaten?“ Wann immer in einer Zeitung das Thema „Maske“ mit „Asien“ zusammenkommt, merkt man schnell: Für die meisten Leute scheint dieses „Asien“ eine homogene Gruppe von Ländern „irgendwo im Osten“ zu sein. Dafür, dass uns die Welt über den virtuellen Raum offen steht, wir mit Flugsimulatoren den ganzen Globus umrunden können und das Wissen der Welt nur einen Mausklick entfernt ist, ist der geistige Horizont vieler Menschen erstaunlich begrenzt. Alles wird in einen großen Topf geworfen, und so kommen die Leserinnen und Leser in den Kommentaren am Ende von sich aufschaukelnden Streitgesprächen immer unweigerlich zu dem Schluss, dass „die Japaner“, weil sie ja Asiaten sind, Maske tragen, weil die Luft so schlecht ist. Smog und so. Tōkyō 2020 Tōkyō 2020 Tōkyō 2020 Tōkyō 2020 Woher dieser Denkfehler kommt, ist schnell nachvollziehbar. Die Bilder aus chinesischen Städten – oft etwa Beijing – in denen die Luft so dick ist, dass man sie mit dem Buttermesser schneiden kann, sind in den Köpfen sehr präsent. Die Bilder in den Nachrichten sind erschreckend und Masken können – wenn sie gut passen – hier Abhilfe schaffen. [1] Aber Beijing ist halt eben nicht Tokyo. Es ist auch keine einfache Verwechslung, wenn man die Leute wiederholt darauf hinweist, dass sie falsch liegen und die Antworten immer selbstherrlicher und patziger werden. Hier zeigt sich ein tief sitzender Eurozentrismus, bei dem es „uns“ und „die Asiaten“ gibt, die „ja auch sowieso alle gleich aussehen“. Man hält es gar nicht für nötig, zu differenzieren, weil es „halt Asien ist“. Übrigens: Dieses Phänomen ist natürlich nicht auf Asien beschränkt. Luftverschmutzung in Tokyo Um gleich mit dem dicksten Brocken aufzuräumen: Luftverschmutzung ist kein Grund, weshalb Menschen in Japan Mundschutz tragen. Daten und Messstationen sind für uns Laien nicht ganz einfach zu verstehen, sie schwanken im Tagesverlauf und mit den Jahreszeiten. Und es wäre auch völlig überzogen zu behaupten, die Luftqualität in Tokyo sei perfekt und man müsse nichts mehr tun. Eine Studie aus 2017 zeigt, dass in Japan geschätzte 60.000 Todesfälle im Jahr auf Luftverschmutzung zurückzuführen sind. [2] Aber diese Zahlen sollten auch im Vergleich gelesen werden. Im selben Jahr konnten wir in Deutschland lesen, dass wir 2014 bis zu 80.000 Todesfälle durch Luftverschmutzung zu verzeichnen haben. [3] Auch hier gilt: Unterschiedliche Studien legen unterschiedliche Messlatten an und die Zahlen sind nicht direkt vergleichbar. Sie geben aber eine Idee von der Größenordnung. Und die sagt uns hier: Japan hat deutlich mehr Einwohner als Deutschland, es wäre also völlig überzogen zu behaupten, dass sich die Menschen in Tokyo vor giftigem Smog schützen müssten, während wir uns über die Platzierung von Messstellen streiten, um der Autoindustrie beizuspringen. Tōkyō ist urban bis zum Horizont und manchmal ist es auch diesig. Smog ist aber heute kein Problem mehr. In der Tat ist das auch überhaupt nicht die Motivation der Menschen, einen Mundschutz zu tragen, selbst wenn es notwendig wäre. Es gab in der jüngeren Vergangenheit übrigens genau einen Fall, in dem in Japan zum Tragen von Mundschutz wegen Luftverschmutzung geraten wurde: im März 2013 erreichten Spuren von Luftverschmutzung vom chinesischen Festland die südwestlichen Präfekturen Japans, weshalb dort zeitweise geraten wurde, Masken zu tragen. [4] Historischer Exkurs: Umweltskandale in Japan In der Vergangenheit hatte Japan hingegen schwer zu kämpfen mit den Nachwirkungen der Industrialisierung. Die Luftverschmutzung in Tokyo war hoch, vor allem in den Industriegebieten um Kawasaki wurde nahezu ungezügelt Dreck in den Himmel geblasen, der in die Hauptstadt zog. Umweltskandale erschütterten das Land und Begriffe wie „Minamata-Krankheit“ und „Yokkaichi-Asthma“ [5] gingen als Negativbeispiele um die Welt. Japan befand sich zu dieser Zeit auf einer wirtschaftlichen Aufholjagd mit wenig Rücksicht auf die Gesundheit der Bevölkerung. Es wurde jedoch auch politisch irgendwann klar, dass eine solche Rücksichtslosigkeit einen zu hohen Preis hat. In den 1970er-Jahren gab es eine Serie von Umweltgesetzen, welche die Situation bis heute deutlich verbessert haben [6]. Ob die ambitionierten Ziele in der Zukunft eingehalten werden, wird sich zeigen, aber Premierminister Suga strebt für 2050 einen Nettoausstoß von CO2 von null an. Teil dieses Planes ist es, Verbrennungsmotoren komplett zu verbieten [7]. Schon heute sind Dieselfahrzeuge in Tokyo äußerst streng reglementiert [8]. Also, warum trägt man in Japan Maske? Die Gründe, warum Japanerinnen und Japaner zum Mundschutz greifen, sind vielfältig. Aus dem persönlichen Umfeld können wir sagen, dass in folgenden Situationen eine Maske getragen wird: Zum Schutz vor Pollen bei Heuschnupfen und Asthma Bei Erkältung, um andere Menschen zu schützen Einen Pickel verstecken oder keine Lust auf Make-up Den Schutz vor Luftverschmutzung haben wir in 2,5 Jahren Leben in Japan noch nie gehört. Es gibt sicher Menschen, für die das ein Beweggrund ist, aber es ist mitnichten die Mehrheit. Nun gibt es natürlich Wissenschaftler:innen und Umfrageinstitute, die solche Dinge auch empirisch aufarbeiten, und wir möchten euch ein paar der Ergebnisse hier präsentieren [9]. Zwischen 22,8 % – 48,7 % der Befragten tragen eine Maske zum Schutz vor der Grippe, wobei 76,5 % glauben, dass die Maske in diesem Fall schützt. 3/4 der Befragten sind bereit, bei einer Erkältung eine Maske zu tragen. 70 % der an Heuschnupfen leidenden Menschen in Japan tragen Masken. Kyōto 2020 Kyōto 2020 Kyōto 2020 Kyōto 2020 Die Maske hat dabei eine lange Geschichte in Japan, die wie in Europa mit der Spanischen Grippe (1918 – 1920) beginnt. In Fukui etwa trugen vermutlich 80 % der Einwohner 1920 Masken zum Schutz. Mit der Entwicklung von Impfstoffen war es dann der Heuschnupfen, der bekämpft wurde. Seit den 1970ern wird die Maske dagegen offiziell empfohlen und in den 1980ern war es ausgerechnet eine Anti-Impfkampagne, die der Maske auch bei der Grippe wieder zum Durchbruch verhalf. Im neoliberalen Umfeld der 1990er wurde die Maske dann zum Statement: Schau her, ich kümmere mich um meine Gesundheit, damit ich produktiv bleiben kann! 2009, während der H1N1-Pandemie und 2011, nach der Kernschmelze in Fukushima, war die Maske ein Symbol für den Schutz gegen bestimmte wahrgenommene externe Gesundheitsrisiken. Umfragen zeigen übrigens auch, dass zeitweise bis zu 30 % der Menschen, die eine Maske tragen, das aus völlig banalen Gründen – wie eben fehlendes Make-up – tun [10]. Luftverschmutzung spielt dabei bis auf den kleinen Exkurs 2013 keine Rolle. Übrigens, Fun Fact: Es gibt doch eine Art der „Luftverschmutzung“, gegen die man in Japan Masken trägt: Vulkanasche [11]. Fazit: Warum tragen Japaner:innen Masken? Unsere langjährige persönliche Erfahrung und die Daten aus Presse und wissenschaftlichen Aufsätzen untermauern, was wir euch im Einstieg sowieso schon gesagt haben: Masken werden getragen, um sich und andere vor Krankheiten zu schützen oder um sein Gesicht aus einer Vielzahl von Gründen kosmetisch zu verstecken. Umweltaspekte spielen bis auf kurze Episoden mit Fremdeinwirkung (z. B. ungünstige Winde aus China) für die Bereitschaft zum Tragen keine Rolle, lediglich in Kagoshima werden Masken empfohlen, um sich gegen Vulkanasche zu wappnen. Kyōto im Winter 2012 – auch hier gab es bereits Menschen mit Masken auf den Straßen. Quellenverzeichnis [1] Cherrie, John W.; Apsley, Andrew; Cowie, Hilary; Steinle, Susanne; Mueller, William; Lin, Chun et al. (2018): Effectiveness of face masks used to protect Beijing residents against particulate air pollution. In: Occupational and environmental medicine 75 (6), S. 446–452.[2] Hornyak, Tim (2019): Reading the air: Tokyo still has work to do on air pollution. In: The Japan Times, 11.05.2019. Online verfügbar unter https://www.japantimes.co.jp/life/2019/05/11/environment/reading-air-tokyo-still-work-air-pollution/.[3] Mehr als 80.000 Todesfälle durch Luftverschmutzung in Deutschland (2017). In: Ärzteblatt, 12.10.2017. Online verfügbar unter https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/81823/Mehr-als-80-000-Todesfaelle-durch-Luftverschmutzung-in-Deutschland. [4] Schreiber, Mark (2013): No clearing the air over neighbor’s pollution. In: The Japan Times, 10.05.2013. Online verfügbar unter https://www.japantimes.co.jp/news/2013/03/10/national/media-national/no-clearing-the-air-over-neighbors-pollution/. [5] Weidner, Helmut (1977): Ökologische Ignoranz als ökonomisches Prinzip. Umweltzerstörung und Umweltpolitik in Japan. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (23), S. 11–29.[6] Sumikura, Ichiro; Osborn, Derek (1998): A brief history of Japanese environmental administration. A qualified success story? In: Journal of Environmental Law 10, 1998 (2), S. 241–256. [7] Reuters (2020): Japan may ban sale of new gasoline-powered vehicles in mid-2030s, 03.12.2020. Online verfügbar unter https://www.reuters.com/article/us-japan-autos-gasoline-idUSKBN28D044. [8] Tokyo bans ‚dirty‘ diesel vehicles (2000). In: The Japan Times, 16.12.2020. Online verfügbar unter https://www.japantimes.co.jp/news/2000/12/16/national/tokyo-bans-dirty-diesel-vehicles/. [9] Horii, Mitsutoshi (2014): Why Do the Japanese Wear Masks? A short historical review. In: ejcjs 14, 29.07.2014 (2). Online verfügbar unter http://www.japanesestudies.org.uk/ejcjs/vol14/iss2/horii.html. [10] Simonitch, Steven (2012): More Japanese youth wearing surgical masks to hide their face. In: Japan Today, 04.12.2012. Online verfügbar unter https://japantoday.com/category/features/lifestyle/more-japanese-youth-wearing-surgical-masks-to-hide-their-face.[11] Covey, J.; Horwell, C. J.; Ogawa, R.; Baba, T.; Nishimura, S.; Hagino, M.; Merli, C. (2020): Community perceptions of protective practices to prevent ash exposures around Sakurajima volcano, Japan. In: International Journal of Disaster Risk Reduction 46. Werde Unterstützer Du möchtest The Hangry Stories einmalig oder monatlich mit einem kleinen Betrag finanziell unterstützen und ein kleines Dankeschön bekommen? Dann werde Unterstützer auf Patreon! Blog abonnieren Wenn ihr „The Hangry Stories“ abonnieren wollt, dann könnt ihr euch hier für unsere Blog-Abo eintragen. 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Antworten Micha 4. Juni 2021 - 9:31 Hallo Sabine! Vielen Dank für deinen Kommentar, wir sehen es natürlich immer gerne wenn man unsere Artikel verbreitet. 😁 Manchmal braucht man einfach eine ganze Menge Atem und viel Zen um sich durch Kommentar- oder Facebookspalten zu lesen. Antworten Anonymous 5. Februar 2021 - 14:10 Guter Post, der meine persönliche Ursachenvermutung gut mit Daten und Information unterfüttert! Danke 🙂 Antworten Kommentar schreiben Antwort löschen Wie fandest du unser Rezept? Wie fandest du unser Rezept? Name, E-Mail und Website für nächstes Mal speichern.