Wir leben für ein Jahr in Japans Hauptstadt Tokyo und uns war klar, dass wir für unseren Alltag hier ein Fahrrad kaufen werden. In unserer Heimatstadt München sind wir nahezu jeden Tag auf unseren Rädern unterwegs, um mit ihnen zur Arbeit, zur Uni, zum Einkaufen oder zu Freunden zu fahren. 20 Kilometer am Tag durch den Münchener Stadtverkehr sind für uns Alltag.
Wie kauft der Tokioter sein Fahrrad?
Große Fahrrad-Märkte, wie wir sie aus München kennen, gibt es hier in Tokyo nicht, da die Läden hier strikt nach dem geplanten Einsatzgebiet der Räder getrennt werden. In einem normalen Fahrrad-Geschäft können nur einfache Stadträder erworben werden. Diese sind stabil und ideal zum Einkaufen und Kinder transportieren. „Mamachari“ werden sie genannt, weil sie vermeintlich von Müttern zum Einkaufen genutzt werden. Doch lasst euch davon nicht täuschen, das Mamachari ist DAS Alltagsrad auf Japans Straßen. Egal ob Schüler, Studierende oder Anzugträger – das überall erhältliche und relativ günstige Rad ist der Standard. Immer häufiger ist es auch mit Elektromotor ausgestattet und damit komfortabel über alle Altersgruppen hinweg.

Bereits im ersten aufgesuchten Geschäft wurden wir mit großen Augen angeschaut, als wir unseren Plan von längeren Fahrrad-Touren erwähnten. Dafür taugt das Mamachari nicht, man soll doch bitte ein Geschäft für Sporträder aufsuchen. Sporträder? Ein Rennrad wollten wir eigentlich nicht fahren?


In besagtem Fahrradgeschäft fühlten wir uns aber doch gleich wohler. Hier gab es mehr Auswahl, die schon eher unserer Vorstellung entsprach. Wir haben auch gar nicht so viele Anforderungen: Es soll ein Fahrrad sein, das uns sicher über die Straßen im Stadtverkehr und manchmal auch Feldwege bringt. Nicht zu schwer, Scheibenbremsen, eine vernünftige Gangschaltung und die Möglichkeit Gepäckträger und Schutzbleche anzubringen. Wir planen im Herbst eine Radtour: 1.000 Kilometer rund um Shikoku wollen wir fahren – da müssen Zelt, Schlafsack und mehr transportiert werden.
Fahrradstadt Tokyo – aber nur auf kurzen Strecken
In München haben wir aktuell einen Radverkehrsanteil von 18 % und liegen damit sogar deutlich über den Bundesdurchschnitt von 11 % (2017). In Tokyo liegt der Radverkehrsanteil bei 15 %. Über die Hälfte der Tokioter fahren mit einem Fahrrad Strecken bis zu 2 Kilometer, meistens wird zur nächsten Bahnstation gependelt oder zum Einkaufen gefahren. Größere Entfernungen sind hier nicht die Norm im Alltag und werden hauptsächlich als Sport und Wochenend-Aktivität gesehen. Unsere Wohnung in Tokyo ist so gelegen, dass für uns beliebte Ziele innerhalb von fünf Kilometern einfache Strecke erreichbar sind. Darüber freuten wir uns. Reaktionen aus dem japanischen Umfeld: Das ist aber weit.
Im Fahrradgeschäft in Tokyo wurden wir gut beraten und entschieden uns beide für ein Crossbike. Diese Räder sind leicht und fix auf Straßen unterwegs, kommen aber dennoch mit wechselnden Untergründen zurecht. Während wir in München mit potenziellen neuen Rädern immer ein paar Runden um den Block oder auf Teststrecken fahren konnten, war das im Geschäft mitten in Shinjuku keine Option.
Keine Probefahrt beim Radlkauf möglich
Es durfte sich kurz auf das Radl gesetzt werden, während der Verkäufer die Rahmengröße prüfte und die Sattelhöhe festlegte. Da die Fahrräder ohne Zubehör kommen, mussten wir dieses auch noch auswählen: ein batteriebetriebenes Rücklicht (keine Pflicht), ebenso ein Vorderlicht (Pflicht) und eine Klingel (Pflicht), sowie Gepäckträger und Schutzbleche. Ein Fahrradschloss wanderte auch noch in den Einkaufskorb, denn auch wenn die Diebstahlquote in Japan relativ gering ist: Gelegenheit macht Diebe. Dann kam der Papierkram. In Japan ist es seit 1996 Pflicht, dass Fahrräder beim Kauf vom Besitzer registriert werden. Die Anmeldung dafür wird direkt im Geschäft ausgefüllt und von dort an die Behörden weitergeleitet. Am Ende bekommt das Rad einen Aufkleber mit QR-Code.

Direkt mitnehmen konnten wir die Räder nicht, da sie noch in die Werkstatt mussten. Ungefähr fünf Tage später kam der Anruf, dass wir die Räder abholen können: Die Freude war groß, als wir mit Fahrradhelm bewaffnet in den Bus stiegen und zum Fahrradgeschäft fuhren. Endlich wieder mobil!
Der ewige Konflikt: Shared Space und Platzmangel
Im Japan-Urlaub hatten wir bereits oft Fahrräder ausgeliehen, daher sind uns die Verkehrsregeln und Linksverkehr vertraut, aber auch in Japan wird darüber debattiert, wo der ideale Platz für Fahrräder im Stadtverkehr ist. Es wird viel probiert, aber vergleicht man die Fahrrad-Infrastruktur in München und Tokyo, dann können wir in München bereits auf ein deutlich besseres Netz an Radwegen blicken.
In Tokyo sollen Fahrräder auf der Straße fahren, aber oft sind die Gehwege sowohl für Fußgänger als auch Radfahrer freigegeben. Manchmal finden sich auch Radwege, wie wir sie aus München kennen. Leider oft nur für wenige hundert Meter und mit dem Zusatz „Fußgänger haben Vorrang“ versehen. Dies führt dazu, dass Fußgänger wie selbstverständlich auf diesen Wegen laufen und Radfahrer auf den Gehweg ausweichen. Die meisten Radfahrer wuseln sich mit ihren Mamacharis erstaunlich erfolgreich durch Menschenmassen, geklingelt wird selten. Stattdessen zeigt meist die quietschende Bremse oder die schlecht geölte Kette an, dass sich ein Radfahrer nähert. Obwohl man sagen muss, dass die Tokioter auch hin und wieder klingeln.
Kein zusammenhängendes Radverkehrsnetz in Tokyo
In Hinterstraßen gibt es keine Trennung des Straßenraums mehr: Hier teilen sich Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer den verfügbaren Platz. Ein tolles Konzept, das nur funktioniert, weil alle aufeinander achten und das Tempo gering ist. Dies kann manchmal eine ganz schöne Herausforderung sein, weil es immer Leute gibt, die ihre Umwelt ausblenden. Sei es durch Kopfhörer oder weil sie in ihr Smartphone vertieft sind. Anbei eine Bildersammlung, was es hier am häufigsten gibt:








Autofahren ist in Tokyo unattraktiv
Autofahren ist in Tokyo relativ unattraktiv: die Stadtautobahnen kosten Geld und Parkplätze in der Stadt sind rar und sehr teuer. Im Alltag kommen uns die Straßen oft leerer vor als in München, gerade Privat-PKWs scheinen wenige unterwegs zu sein. Die Straße wird beherrscht von Lieferverkehr, LKW, Bussen und Taxen. Dennoch sind die großen Straßen für unsichere Radfahrer eine Herausforderung. Immer wieder ziehen Autos an den Straßenrand, um kurzzeitig anzuhalten. Dies ist erlaubt, aber für Radfahrer mitunter gefährlich, weil man sich in den fließenden Verkehr einordnen muss. Japanische Autofahrer scheinen auch unsere Handzeichen nicht zu verstehen, weshalb wir hier immer besonders vorsichtig sind. Ganz im Gegensatz zu unseren japanischen Mitradlern, die nicht selten ohne Richtungshinweis und Blick nach hinten in den fließenden Verkehr fahren. Überhaupt wirken viele japanische Radfahrer ziemlich unbedarft was Verkehrsregeln betrifft. Man ist meist schon dankbar, wenn einem auf einer sechsspurigen Straße kein Elternteil mit zwei Kindern im Gegenverkehr entgegenbraust.


Apropos Parkplätze: Diese sind auch für Fahrräder oft Pflicht! Sein Fahrrad unbedacht vor den Laden abstellen endet oft damit, dass das Fahrrad eingesammelt und gegen Zahlung einer Gebühr wieder ausgehändigt wird. An vielen Bahnhöfen und öffentlichen Gebäuden gibt es Fahrradstellplätze, die meistens etwa hundert Yen für ein paar Stunden kosten, manchmal sind auch die ersten Stunden kostenfrei. Die Suche nach einem Stellplatz kann auch mal länger dauern als die gesamte Fahrtzeit – aber bisher haben wir noch immer eine Ecke für unsere Räder finden können. Für den Stellplatz an unserer Wohnung haben wir übrigens einen schicken Sticker bekommen, damit wir dort parken dürfen.

Das waren unsere ersten Erlebnisse mit unseren neuen Rädern in Tokyo. Wir berichten, wie es weitergeht!
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